Insights

Der Krebs und sein neuer Gegner: Immuntherapie schürt Hoffnung auf Heilung

AZ_Bild
Foto: Radio 24 mit Bildmaterial von AZ Medien
Schweiz am Wochenende

Der Krebs und sein neuer Gegner: Immuntherapie schürt Hoffnung auf Heilung

Seit der Antike befasst sich die Wissenschaft mit Krebs – dem «König aller Krankheiten». Rabiat wird er angegangen, mit Schnitten, Bestrahlung und Chemo. Nun sagt ihm das Immunsystem den wohl schwierigsten Kampf an.

Pausenlos gehen die Schiebetüren auf, strömen Menschen in die Empfangshalle. Der Klang des Pianospielers in der Ecke hallt durch den Raum, leise hört man die Aufzüge um die Ecke, wie sie permanent klingeln. Gerade wähnt man sich in einer Hotellobby, da steigt einem der Geruch von Desinfektionsmittel in die Nase, fällt der Blick auf Menschen mit eingefallenen Gesichtern, geschwächtem Gang. Sie drängen in die Aufzüge.

Das Dana-Farber Cancer Institute in Boston ist eines der renommiertesten Krebszentren weltweit. Täglich werden hier 1000 Krebspatienten ambulant behandelt. Sie fliegen aus dem ganzen Land ein, teilweise gar von weiter her. Der Arzt Sidney Farber entdeckte hier am Lehrspital der Universität Harvard 1948 die Chemotherapie. Im Keller des alten Klinikgebäudes forschte er Tag und Nacht.

Paradigmawechsel nicht für alle

In den Etagen darüber ähneln die Warteräume für die Patienten heute den Wartezonen an Flughäfen. Die Stuhlreihen sind dicht belegt mit Patienten, die auf ihre nächste Infusion warten. Für viele bedeutet das auch 80 Jahre nach Sidney Farber noch Chemotherapie. Doch immer häufiger werden Patienten hier mit Krebsimmuntherapie behandelt. Aktuell sind es etwa 15 Prozent.

Dieser Behandlungsansatz hat in den vergangenen fünf Jahren nie da gewesene Erfolge erzielt. Ein Paradigmawechsel, da sind sich Ärzte, Forscher und Pharma einig. Letztere spricht bereits von «Heilung». Das gilt aber erst für wenige Patienten. Der Infusions-Therapie, die die Abwehrzellen aufrüstet, sind noch enge Grenzen gesetzt. Sie muss ihre Wirkung bei allen weitverbreiteten Krebsarten erst beweisen, etwa bei Brustkrebs, der zweithäufigsten Todesursache bei Frauen. Dort gibt es erste Forschungsdaten, die Therapie ist aber noch nicht zugelassen.

Das weiss auch Robert Mayer. Der Onkologe und Harvard-Professor hat mit über 40 Jahren fast seine ganze berufliche Karriere am Dana-Farber Cancer Institute verbracht. Noch vor zehn Jahren hätte er nicht gedacht, dass Ärzte heute mit der Immuntherapie so grosse Erfolge erzielen würden. «Wir sehen, dass gewisse Patienten sehr gut und über eine beträchtlich lange Zeit auf die Therapie ansprechen. Bloss wissen wir noch nicht genau, wer diese Patienten sind und warum die Therapie bei ihnen wirkt.»

Grundsätzlich seien die Tumoren besser mit Immuntherapie behandelbar, die viele Mutationen aufwiesen. Dann kann das Immunsystem den Krebs besser erkennen und seine Abwehrzellen aussenden, um ihn zu zerstören. «Bei geringer Mutation können die Abwehrzellen ihren Job nicht mehr so gut machen.» Deshalb suchen Forscher nach neuen Zielen, die in Kombination mit der Immuntherapie die Abwehrzellen auch bei wenig mutierten Tumoren zu ihrem Angriffsziel bringen.

Die jüngsten Fortschritte hat Mayer vor wenigen Wochen auf dem grössten Onkologie-Kongress in Chicago mitverfolgt. Zum wichtigsten Pflichttermin für Onkologen strömen jährlich über 35 000 Ärzte und unzählige Pharmariesen wie Roche und Novartis.

Pharma schürt Heilungshoffnung

Zum Auftakt der fünftägigen Konferenz lädt Roche zum Stelldichein in Downtown Chicago. Das Licht im Hotel Marriott ist gedämpft, auf der Bühne leuchtet blau das Roche-Logo. Die Krebsimmuntherapie ist seit fünf Jahren Hauptgesprächsthema. Roche ist einer der führenden Player auf dem jungen Milliardenmarkt. Ihre wichtigste Immunarznei Tecentriq wurde seit Mai 2016 gegen Blasen- und Lungenkrebs zugelassen.

Weitere Tumortypen sollen folgen. Die Hauptbotschaft an dem Morgen lautet: «In pursuit of the cure». Der Heilung auf der Spur. «Heilung ist kein illusorisches Ziel mehr», sagt Dietmar Berger, Roches Krebs-Chef in der klinischen Entwicklung. Die Wissenschaft verstehe heute genug von den molekularen Ursachen der Tumorentstehung, um dieses Ziel in Angriff zu nehmen.

Das war lange nicht so. Erst mit der vollständigen Entschlüsselung des Erbguts konnte die Forschung nach und nach auf molekularer Ebene nach den genetischen Ursachen von Krebs suchen (siehe nachfolgende Bildergalerie). Mit dem zunehmenden molekularen Wissen wurde die Krebstherapie immer zielgerichteter, die Forschungsstudien wurden kleinteiliger, die Therapie personalisierter. Entlang dieses Wissens versuchen Konzerne wie Roche, gruppenspezifische Zutaten zu finden, die den Tumor, seine Umgebung und das Immunsystem des Patienten so modulieren, dass die Krebsimmuntherapie irgendwann auch bei den 80 Prozent der Patienten funktioniert, die noch nicht ansprechen.

Zum Schluss der Roche-Veranstaltung folgen die Videobotschaften derer, die dank den Arzneien der Basler den Krebs besiegt haben. Zumindest bis dato. Der britische Familienvater Toby erzählt von seinem Kampf gegen Lungenkrebs, die junge Mutter Ike aus Deutschland von ihrem Brusttumor. Sie, die Tobys und Ikes, sind in den Kongresshallen in Chicago zahlreich vertreten.

Auf ihren Badges, die hier jeder Arzt, Forscher oder Pharmavertreter um den Hals trägt, steht in dicken Buchstaben: «Cancer Survivor». Krebsüberlebender. «Sie sind die grossen Erfolgsgeschichten der Konzerne. Die, die den Krebs überlebt haben», sagt Katherine O’Brien. «Sie sind gefragt, nicht so wie Unsereins.» O’Brien leidet seit acht Jahren an fortgeschrittenem Brustkrebs. Stadium vier von vier. Seit der ersten Diagnose.

Aus dem Leben einer Patientin

Da war er plötzlich, der Brustkrebs, mit Metastasen in der Wirbelsäule. Sie hatte keinen Knoten bemerkt, nichts. Damals, 2009, kam O’Briens älteste Nichte Colleen auf die Uni. «Ich hätte nie gedacht, dass ich ihren Abschluss noch miterlebe», sagt O’Brien und streicht sich mit den schmalen Fingern eine Strähne aus dem Gesicht.

Dann kamen im Jahr 2011 Metastasen in der Leber dazu. Trotzdem ginge es ihr einigermassen gut, bis auf die ständige Müdigkeit. Statistisch zählt O’Brien zu den wenigen Ausnahmen, weil ihre Krankheit glücklicherweise nur sehr langsam fortschreitet. Bei metastasiertem Brustkrebs im vierten Stadium leben fünf Jahre nach der Diagnose noch 26 Prozent derPatientinnen.

Im Herbst heiratet Nichte Colleen. Ob sie sich ein Kleid kaufen soll? Katherine O’Brien weiss es nicht. «Wer weiss, ob ich dann noch da bin oder wies mir geht?» Es ist diese Ungewissheit, die die 51-Jährige am meisten quält. Tag für Tag. Wirkt die Therapie noch, schreitet der Krebs fort? Aktuell erhält O’Brien ihre vierte Therapie. Die Alternativen schwinden. Bleibt noch die knüppelharte Chemo, die sie bisher vermeiden konnte.

Vor jeder Computertomografie verkriecht sie sich tagelang in ihrer Wohnung in einem Vorort Chicagos. Hier verbringt sie viel Zeit am Computer. Auf ihrem Blog ihatebreastcancer erzählt sich von ihren Erfahrungen und klärt auf. «Am Anfang war da diese Wut. Ich musste darüber schreiben.» Bis vor zwei Jahren arbeitete O’Brien als Texterin beim Branchenmagazin «American Printers». Der Job war ihr ein und alles. Irgendwann war sie körperlich aber nicht mehr in der Lage. «Es ging einfach nicht mehr.» Das Schreiben hat sie beibehalten. Sie möchte anderen Frauen Mut machen und etwas bewirken. Wann immer es ihre Gesundheit erlaubt, reist die Chicagoerin zu den Kongressen überall im Land.

Katherine O’Briens Fall zeigt, wer hinter den 80 Prozent der Patienten steckt, die noch nicht von der bahnbrechenden Immuntherapie profitieren. Es sind Menschen mit Metastasen und Tumoren, die entweder nicht auf die Therapie reagieren oder für deren Tumortyp die Immun-Mittel noch nicht zugelassen sind. Letzteres ist bei Brustkrebs der Fall.

Deshalb blieb auch O’Brien die neue Therapie bislang verwehrt. Aktuell läuft bei Roche und Co. eine Vielzahl an Studien, auf dem Kongress wurden erste Daten in einer kleinen Brustkrebs-Untergruppe präsentiert. «Der triple-negative Brustkrebs lässt sich, wie die jüngsten Daten zeigen, möglicherweise mit Immuntherapie behandeln», sagt Rolf Stahel, Onkologie-Professor und Leiter des Cancer Center des Universitätsspitals Zürich.

Bei den weit häufiger verbreiteten Brustkrebsformen laufe es wohl, wie in vielen anderen Fällen, auf eine Kombinationstherapie hinaus. Brustkrebs sei wegen seiner unterschiedlichen Hormonausprägung sehr heterogen. Das mache es schwieriger für die Immuntherapie. Stahel reist jedes Jahr nach Chicago. Die riesigen Fortschritte der Immuntherapie beeindrucken ihn.

«Wenn auch letztlich nicht alle Patienten davon profitieren können.» Es gebe zielgerichtete Arzneien der letzten Generation, die bei bestimmten Mutationen gut wirkten. Sie kosten nur einen Bruchteil der über 100 000 Franken für Immuntherapie. Das müsse er teilweise auch seinen Patienten erklären, die Immuntherapie erwarten.

Die Erfolge geben Hoffnung. Hoffnung, die auch Katherine O’Brien am Leben hält. Sie denkt jede Sekunde an den Krebs. «Er ist wie ein Radio, das mal leiser, mal lauter spielt.» An diesem Abend hört sie Ärzten zu, die am Rande des Kongresses zum Brust-Symposium geladen hatten. CDK4 heisst ihre neue Hoffnung. Keine Immuntherapie, aber eine Arznei, die grosse Behandlungserfolge bei Brustkrebs zeigt.

Ein Hersteller ist Novartis mit dem Mittel Kisqali. Katherine notiert sich alles in ihr Notizbuch. Nach dem Kongress wird sie ihren Arzt fragen, ob CDK4 für sie infrage komme. Er wird sagen «bislang leider nicht». Ihre Hoffnung wird, wie bei so vielen Patienten, auf die Immuntherapie zurückfallen. Eine Hoffnung, die Forschung und Pharma hoffentlich einlösen.

Von Laurina Waltersperger aus Boston und Chicago

Quelle: Schweiz am Wochenende
veröffentlicht: 22. Juli 2017 06:00
aktualisiert: 22. Juli 2017 06:00