«Ist Deutsch nicht die Muttersprache, hat man eine Scham verinnerlicht»
Vom 22. bis 27. Oktober 2024 findet das Buch- und Literaturfestival «Zürich liest» statt. Ob Lesung, Diskussion, Vortrag, Theater oder Workshop – diverse Veranstaltungen und verschiedene Genres sind im Angebot. Insgesamt umfasst das Festival 234 Veranstaltungen an 115 Orten in Zürich und Umgebung. Neu gibts einen inhaltlichen Schwerpunkt: Mutters Sprache. Das Festivalbüro hat mit der Programmkommission zehn Veranstaltungen zu diesem Thema organisiert. Migmar Dolma tritt bei einem dieser auf – und ist selbst Teil der Programmkommission. Im Interview mit ZüriToday spricht sie über das Fokusthema.
Migmar Dolma, neu gibts bei «Zürich liest» ein Fokusthema. Warum lautet es dieses Jahr «Mutters Sprache»?
Mutters Sprache hat jeder Mensch und das ist für alle essenziell. Gleichzeitig ist die Mutter als Figur unterrepräsentiert in der Literatur. Es ist noch nicht so lange her seit Frauen überhaupt lesen und schreiben. Wir wollen auch inhaltlich zeigen, was es heute bedeutet, Mutter zu sein. Was ist mit schreibenden Müttern? Wie werden Mutterfiguren in Romanen dargestellt? Welche Mutterfiguren sind für uns inspirierend? Es geht darum, eine Lücke zu füllen. Gleichzeitig muss man sagen, dass die Schweiz ein Migrationsland ist. Nur schon in der Stadt Zürich werden unzählige Muttersprachen gesprochen. Diese Vielsprachigkeit wollen wir miteinbeziehen.
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In der Beschreibung des Fokusthemas berichtest du von der Situation einer Mutter und Tochter im Bus. Eine Mutter wird geächtet, weil sie zu laut klingt und nicht Schweizerdeutsch spricht. Es gibt missbilligende Blicke, die Mutter beginnt leiser zu sprechen, bis sie flüstert. Zuhause spricht sie wieder laut und deutlich und erzählt lustige Geschichten. Ist das eine Situation, die du selbst erlebt hast?
In dieser Form ist mir das nicht passiert. Es ist ein fiktionales Beispiel. Dennoch kenne ich unzählige ähnliche Situationen. Wenn zum Beispiel in Zürich Expats Englisch sprechen, erlebe ich nicht so eine Aversion, wie wenn eine eritreische Familie etwas lauter im Bus Tigrinya spricht. Es ist mir wichtig, dies kritisch zu beleuchten. Diejenigen Menschen, die eine andere Muttersprache in Zürich und in der Schweiz haben, haben eine Scham verinnerlicht. Es geht darum, diese Scham abzulegen und einzusehen, dass diese Muttersprache jedes Individuum bereichert. Das ist nicht einfach und hier kann die Literatur helfen. Wir haben zum Beispiel Dinçer Güçyeter ans Festival eingeladen, der mit «Unser Deutschlandmärchen» vor ein paar Jahren den Leipziger Buchpreis gewonnen hat. Er erzählt die Geschichte seiner Grossmutter und Mutter. Die Mutter ist eine Fabrikarbeiterin und erlebt Diskriminierung. Er beschreibt das auf eine schöne, eigene poetische Art.
Was braucht es, damit die Scham, in der Öffentlichkeit in der Muttersprache laut zu sprechen, verschwindet?
Die Vielsprachigkeit muss zugelassen werden und die Konversation muss offen sein. Die Sprache muss auf einer Bühne stattfinden können, so zum Beispiel an Literaturfestivals. Vielsprachigkeit ist Reichtum, vor allem in der Literatur. Die Geschichten, die ich auf tibetisch gehört habe, kann ich weitergeben und das ist für die Gesellschaft eine Bereicherung. Es ist wichtig, dass eine Öffnung stattfindet und auch bei unserem Literaturfestival nicht nur Literatur auf Deutsch oder Bücher von Schweizer Autorinnen und Autoren präsentiert werden. Die Stimmen, Inhalte und Geschichten aus verschiedenen Sprachen sollen widerspiegelt werden. In Deutschland gibt es ganz viele Gastarbeiter zweiter Generation, die jetzt endlich erzählen, was ihnen widerfahren ist. Ähnlich die ehemaligen Saisonarbeiterinnen und -arbeiter in der Schweiz, von denen viele aus Italien und Spanien stammen, die jahrzehntelang ausgebeutet und deren Familien auseinandergerissen wurden. Wir zeigen am Sonntag dazu ein Hörspiel. Die zwei Präsentierenden Paola de Martin und Melinda Nadj Abonj haben einen Verein gegründet, der sich für die historische Aufarbeitung dieser Periode einsetzt, in der viele Saisonnier-Kinder von den Eltern getrennt wurden.
So kommen wir weg von der Scham. Wenn wir eine Bühne bieten, auf der man über schwierige Themen und Erfahrungen sprechen kann. Es geht nicht immer darum, zu beweisen, dass wir gut integriert sind.
Du hast zweimal ein Beispiel aus Deutschland erwähnt. Ist man dort in der Literatur weiter, was Mutterfiguren, Vielseitigkeit und Sprache betrifft?
Ja, ich denke, in Deutschland ist man weiter. Deutschland hat nochmal eine andere Geschichte und eine andere politische Kultur. Das schlägt sich auch in die Kunstszene, in die Literaturszene um. In der Schweizer Literaturszene ist es manchmal schwierig, Beispiele zu zeigen. In Deutschland sind sehr viele gute Bücher geschrieben worden, die Anerkennung in der Szene erhalten haben und auch Buchpreise gewonnen haben. In der Schweiz hinken wir etwas hinterher, aber ich bin sehr zuversichtlich, dass sich das hier auch verändern wird.
Im Rahmen von «Zürich liest» stellst du an einer Veranstaltung am Samstag, 26. Oktober, Bücher mit Mutterfiguren vor, lädst zur Diskussion ein und präsentierst eigene unveröffentlichte Texte. Was ist von dieser Veranstaltung zu erwarten?
Zusammen mit Erika Do Nascimento werde ich Bücher besprechen. Wir kennen uns, sprechen viel über Bücher und haben herausgefunden, dass die Bücher, die wir bewundern und zelebrieren, solche mit extrem starken Mutterfiguren sind. Mit stark meine ich nicht eine Opfer- oder Heldengeschichte, sondern eine komplexe, echte Geschichte, wie sie im Leben stattfindet. Zum Beispiel stellen wir ein Buch von Ocean Vuong vor. Sein Roman ist ein langer Brief an die Mutter, in dem er ihre und seine Vergangenheit darstellt sowie das gemeinsame Leben, das geprägt ist von Flucht, Migration, Kriegstraumata sowie Gewalt und Armut in den USA. Es wird nichts schöngeredet und für uns beide ist das die grosse Inspiration – eine komplexe Mutterfigur, die am Rande der Gesellschaft steht.
Wir lesen auch aus unseren eigenen Texten. In denen gibt es natürlich auch Mutterfiguren. So werden wir über den Schreibprozess und die Inspiration unserer eigenen Mutter sprechen. Damit wollen wir dem Publikum auch zeigen, wie wichtig das Lesen fürs Schreiben ist.
Was für eine Inspiration ist deine Mutter für dich?
Meine Mutter ist für mich eine sehr grosse Inspiration. Sie ist in die Schweiz eingewandert, hat hier bei Null anfangen müssen und hat mich und meine Geschwister alleine grossgezogen. Sie hat einen unglaublichen Humor bewahrt. Manchmal sagt sie Dinge, die ich gleich notieren muss, weil es so witzig und scharfsinnig ist, dass es in meinen Roman muss. So etwas könnte ich gar nicht erfinden. Ocean Vuong sagte «Überleben ist ein kreativer Akt und es gibt keine kreativeren Menschen als unsere Mütter.» Ich kann das wirklich unterstreichen. Meine Mutter musste unglaublich viel kämpfen, um in diesem Land zu überleben – in allen Facetten des Wortes. Sie hat uns so viel Liebe, Humor, Mut und Lebensfreude mitgegeben. Das ist für mich wirklich eine grosse Inspiration. Auch zu verstehen, wie Menschen viele schlimme Dinge erleben, hinfallen und dann wieder aufstehen. Was Ocean Vuong auch sagte, war, dass seine Mutter all die schlimmen Dinge überlebt hat und ihr «Ich» intakt geblieben ist. Das hat mich sehr berührt.
Kannst du ein Beispiel dafür nennen, was deine Mutter gesagt hat, das du sofort aufschreiben musstest und das irgendwann in deinem Buch vorkommen wird?
Ich habe sie kürzlich jemandem vorgestellt, einem Schweizer Kollegen, und gesagt, dass er mit einer Tibeterin verheiratet ist. Meine Mutter ist sehr klein und er ist fast zwei Meter gross. Dann schaute sie zu ihm hoch und fragte: «Und, ist sie gut?» Wir mussten beide direkt loslachen. Er sagte, bis jetzt sei sie super. Dann sagte meine Mutter: «Im Alter wird sie noch besser.» Wir mussten so lachen. Es ist grossartig, wenn Leute einfach sagen, was sie denken.
Zum Schluss noch: Was erwartet du von «Zürich liest»?
Ich hoffe sehr, dass unser Programm ein grösseres Publikum anziehen kann. Auch Leute, die nicht jedes Jahr an ein Literaturfestival gehen oder denen es vielleicht sogar unangenehm ist. Freunde von mir haben gesagt, sie seien noch nie an einer Lesung gewesen. Als wäre das ein Ort, an den nur gewisse Leute hin dürften. Leute, die etwas Bestimmtes studiert haben, superintellektuell sind oder sich gut ankleiden. Mein grösster Wunsch ist, dass es ein Ort für alle wird. Dass sich alle wohlfühlen. Dass die Leute Geschichten hören wollen und mitdiskutieren. Dass es ein Ort echter Literatur wird. Denn Literatur ist für alle. Das ist das Schöne an Büchern.