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Pfarrer Andrea Marco Bianca will Gottesdienst am Sonntag streichen

Kein Bedürfnis mehr

Zürcher Pfarrer will Gottesdienst am Sonntag streichen

Predigten vor halbleeren Kirchenbänken sind in Zürcher Kirchen normal geworden. Der Vizepräsident des Zürcher Kirchenrats plädiert für das Ende des Gottesdiensts am Sonntag. Dies hängt auch mit dem Tod eines ehemaligen Konfirmanden zusammen.

Die Kirchenglocken läuten am Sonntag bei vielen Zürcherinnen und Zürchern ins Leere. «Die Zahl der Menschen, die am Sonntagmorgen in die Kirche gehen, liegt im Vergleich zu den Mitgliederzahlen nur im einstelligen Prozentbereich», sagt Andrea Marco Bianca, Vizepräsident des Kirchenrats des Kantons Zürich zu ZüriToday. In kleinen Kirchgemeinden sei es nicht unüblich, dass an Sonntagen auch nur rund ein Dutzend Personen in der Kirche sässen.

Meist handelt es sich laut Bianca um ältere Menschen des traditionellen Milieus. «Wenn wir weiterhin Sonntag für Sonntag vor allem für die klassische Kerngemeinde predigen, verlieren wir noch mehr Mitglieder», warnt er.

Die Zürcher Kirchen leiden unter einem Mitgliederschwund. 2023 traten rund 12'400 Personen aus der evangelisch-reformierten Kirche aus. Andrea Marco Bianca will deshalb am Sonntagsgottesdienst rütteln. «Der Gottesdienst am Sonntagmorgen mit Orgel, Kirchenliedern und Kanzel entspricht den Bedürfnissen der allermeisten Mitglieder nicht mehr.» Zu denken gibt ihm etwa auch der Suizid eines ehemaligen Konfirmanden. «Vielleicht würde er jetzt noch leben, hätte die Kirche regelmässig eine Form von Feier geboten, die ihm Kraft gegeben hätte.»

Yoga und Atemübungen statt Orgel und Predigt

Bianca, der langjähriger Pfarrer in der Reformierten Kirchgemeinde Küsnacht ist, stellt fest, dass dennoch viele Menschen spirituell sind und rituelle Bedürfnisse haben. Doch das klassische personalisierte Gottesbild der Bibel habe sich verändert. Sehr viele Mitglieder, die er befrage, verstünden unter Gott vielmehr eine «Kraft» oder «höhere Macht» und könnten auch mit dem Vaterunser kaum mehr etwas anfangen.

«Gewisse Gottesdienste am Sonntagmorgen sind zu streichen und zu ersetzen», fordert der Vizepräsident des Kirchenrats. Als Alternative schweben ihm freiere Feiern am Sonntagabend oder unter der Woche vor. «Die Kirchgemeinden müssen mit ihren Mitgliedern herausfinden, in welcher Form und mit welchem Inhalt diese stattfinden sollen.»

Atemübungen oder auch Yoga als zentrale Elemente solcher Feiern finden seinen Erfahrungen nach Anklang. Ein Gottesdienst müsse dem Leben dienen. Regelmässig veranstaltet Bianca deshalb am Sonntagabend «Pop+More»-Feiern. An eine der letzten Feiern trat die Schlagersängerin Linda Fäh auf und der Pfarrer sprach zu ihren Texten. «Dies rührte selbst die Sängerin zu Tränen», so Bianca. Auch müssten solche Feiern nicht zwingend in einer Kirche stattfinden. «Das Gefühl, dass gefeiert wird, soll wieder aufkommen – mit halbleeren Kirchenbänken geht das nicht.»

«Wollen lieber ausschlafen»

Ähnliche Forderungen stehen in Deutschland zur Debatte. Die evangelische Pfarrerin Hanna Jacobs aus Hildesheim forderte im Mai die Abschaffung des Sonntagsgottesdienstes. «Es gibt quasi keinen Nachwuchs für das, was immer noch das Kernangebot von Kirche ist», sagte sie. Umso aktueller wird ein Vorstoss von Heinrich Brändli, Mitglied der Zürcher Kirchensynode. 2023 beauftragte er den Kirchenrat, vom sonntäglichen Gottesdienst abzukommen. Bis 2025 hat der Kirchenrat Zeit, einen Bericht dazu abzuliefern.

Die Reformierte Kirche des Kantons Zürich geht davon aus, dass sich die rückläufige Mitgliederzahl zu einem Teil auch im Gottesdienst niederschlägt. Über Besucherzahlen zu den Sonntagsgottesdiensten in den Zürcher Kirchgemeinden verfügt sie auf Anfrage nicht.

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Die Kirche führt das mangelnde Interesse an den Gottesdiensten darauf zurück, dass Ritual und Inhalt nicht mehr nachvollziehbar sind, weil ihnen die Tradition fremd ist. Als weiteren Grund sieht sie eine generelle Abwendung vom Glauben und der Religion. «Man kennt die Leute dort nicht, beziehungsweise scheut sich vor Begegnungen ausserhalb der eigenen Bubble», sagt Nicolas Mori, Mediensprecher der Reformierten Kirche Kanton Zürich. Auch sähen manche Menschen den Sonntag als Familien- und Freundestag, an dem man lieber ausschlafe. «Zeit, Ort und Form sind sicher insbesondere für die jüngere Generation oftmals wenig attraktiv.»

Alternative Formen für bestimmte Zielgruppen

Eine Abschaffung des Sonntagsgottesdienstes käme für die Reformierte Kirche nicht infrage. «Grundsätzlich hält die Kirche an der gottesdienstlichen Feier, in den verschiedensten Ausformungen, fest», sagt Nicolas Mori. Dieses Ritual sei ein wesentlicher Bestandteil des christlichen Glaubens. «Es wird seit über 2000 Jahren gefeiert, trägt die Erfahrungen von unzähligen Generationen in sich, ist durch existenzielle Erfahrungen geprägt und in die Form einer Feier gegossen, die es sonst nicht gibt.»

Für ältere Kirchenmitglieder ist der traditionelle Sonntagsgottesdienst laut Mori nach wie vor eine stimmige Form, für junge Menschen aber weniger. Zahlreiche Kirchgemeinden seien deshalb dazu übergegangen, alternative Formen für bestimmte Zielgruppen anzubieten, etwa in Form von Familiengottesdiensten, Morgenandachten für Berufstätige unter der Woche oder Rock-Gottesdiensten am Freitagabend.

Quelle: ZüriToday
veröffentlicht: 9. Juni 2024 07:48
aktualisiert: 9. Juni 2024 07:48